Renaissance - Sandro Botticelli - Venus und Mars um 1483 175 × 297 cm Florenz, National Gallery of London history menue Letztmalig dran rumgefummelt: 01.04.06 20:25:18
Die Götter und Göttinnen ebenso wie die Heroen und Heroinen aus den Geschichten des klassischen Altertums traten nicht immer nur als Einzelpersonen auf. Der Gott fand seine Göttin oder manchmal auch ein irdisches Wesen, der Held seine Heldin. Die Personen der Götter- und Sagenwelt des klassischen Altertums erschienen also häufig paarweise, und deren bisweilen problembeladene Beziehungen zueinander waren oft Gegenstand des eigentlichen Geschehens. Zu den prominentesten Paaren der Antike gehörten neben Amor und Psyche (deren Liebesgeschichte glücklich endete), Orpheus und Eurydike oder Apollo und Daphne (mit weniger glücklichem Ende vor allem Mars und Venus, das klassische Paar überhaupt, das auch Sandro Botticelli in seinem zwischen 1480 und 1485 zu datierenden Gemälde darstellte.
1. Bilddeutung
2. Bildbeschreibung mit Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund
3. Komposition mit Format, Gestaltungsregeln sowie Hauptbewegungslinien
4. Farbe mit den Schwerpunkten: Farbauftrag, Kontraste sowie psychologischer Wirkung
5. Verbindung zur Zeit, Stil und Epoche
6. Weblinks

Veuns und MArs, um 1483 Tempera auf Leinwand, 175 × 297 cm, National Gallery of London


1. Bildbedeutung history menue scroll up
Das auf Holz gemalte, querrechteckige Bild mit Mars und Venus entsprach durch sein außergewöhnlich lang gestrecktes Format und wegen seines Maluntergrundes den damals bekannten Bildern auf Hochzeitstruhen. Diese so genannten cassoni wurden während des gesamten 15. Jahrhunderts anlässlich von Hochzeiten bestellt und waren in der Regel thematisch auf dieses Ereignis abgestimmt. Botticellis Gemälde Mars und Venus dürfte aber ursprünglich als bildlicher Schmuck innerhalb einer hölzernen Wandverkleidung, einer sogenannten spalliera, gedient haben, einer damals sehr populären Bildgattung, die ebenfalls häufig im Zusammenhang einer Vermählung bestellt wurde.
Denkbar wäre auch die Anbringung im Rahmen einer hölzernen Bettbekrönung als »lettuccio«-Bild oberhalb des Bettes. Einen Eindruck vom Aussehen dieser Bildgattungen vermittelt heute noch Domenico Ghirlandaios Fresko mit der Geburt Mariens in S. Maria Novella in Florenz, wo die umlaufende Holzvertäfelung prächtige Einlegearbeiten und die Darstellung darüber tanzende Putti aufweist. Anstelle der Einlegearbeiten und der Putti erschienen oft aufwendig gestaltete farbige Gemälde, deren außerordentliche Bedeutung Giorgio Vasari in seiner zuerst 1550 erschienenen Sammlung von Lebensbeschreibungen der »ausgezeichnetesten Maler, Bildhauer und Baumeister« folgendermaßen beschreibt:
»[ ...] man fand zu jener Zeit überall in den Zimmern der Bürger große hölzerne Truhen, die nach Art der Särge auf den Deckeln mit mancherlei Zieraten versehen waren. Niemand unterließ es, diese Truhen bemalen zu lassen, und außer den Bildern der Front- und Schmalseiten wurde an den Ecken, bisweilen auch an anderen Stellen, das Wappen oder Zeichen des Hauses angebracht. Die Bilder an der vorderen Seite stellten gewöhnlich Fabeln aus Ovid und anderen Dichtern dar, Erzählungen aus lateinischen und griechischen Schriftstellern, oder sonst auch Jagden, Turniere, Liebesabenteuer und ähnliche Dinge, was einem jeden gerade am besten gefiel. [...] Darüber hinaus bemalte man in dieser Weise nicht nur die Truhen, sondern auch die großen Ruhebetten (lettuci), Wandverkleidungen (spalliere) und die umlaufenden Gesimse (cornici) sowie andere ähnliche Verzierungen der Zimmer, welche man damals sehr prachtvoll auszustatten pflegte; dergleichen kann man noch unendlich viel in unserer Stadt sehen. Eine lange Zeit war dieser Brauch so allgemein, dass selbst die vorzüglichsten Meister sich in diesen Gattungen übten, ohne sich zu schämen, während sie heutigen Tages solche Werke nicht bemalen oder vergolden würden. Unter anderen schönen Werken beweisen dies noch zu unserer Zeit einige Bilder auf Truhen, Wandverkleidungen und Gesimsen in den Zimmern des alten Lorenzo il Magnifico de' Medici, auf denen Maler, die nicht zu den gewöhnlichen gehörten, sondern treffliche Meister genannt zu werden verdienen, alle Gefechte, Turniere, Jagden und sonstige Lustbarkeiten [...] gemalt haben. Doch nicht nur im Palast und im alten Hause der Medici, sondern in allen größeren Gebäuden der Stadt sieht man Überreste davon; ja es gibt viele, die an diesem alten, in Wahrheit kostbaren Brauche festhalten und jene Dinge nicht haben entfernen lassen, um sie mit modernem Schmuck zu vertauschen.«


2. Bildbeschreibung mit Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund history menue scroll up
Der Aufbau des querrechteckigen Bildes wird bestimmt durch eine Harmonie schaffende und beinahe achsialsymmetrisch wirkende Anordnung der dargestellten Personen. Eine in der Mitte plazierte, fast lebensgroß abgebildete vollständig nackte Frau, Venus, dominiert den Bildraum. Sie steht aufrecht im klassischen Kontrapost auf einer riesigen Muschel, die ihr offenbar als schiffartiges, seetüchtiges Gefährt dient, und bedeckt ihre Brust nur teilweise, dafür aber elegant mit ihrem rechten Unterarm und ihrer Hand. Mit der anderen Hand greift Venus in einen Strang ihres üppigen, teilweise im Winde flatternden Haares und bedeckt damit ihre Scham.
In die Gattung der bei Vasari beschriebenen Bilder auf Truhen, Wandverkleidungen und Bettumrahmungen gehört auch ein Großteil der mythologischen Gemälde Botticellis, wie zum Beispiel die Primavera und Minerva bändigt den Kentaur sowie aller Wahrscheinlichkeit nach auch Mars und Venus. Der Vorder- und Mittelgrund der letztgenannten Tafel wird von zwei großen und vier kleinen Figuren ausgefüllt sowie links von Baumstämmen, die nur in Form von Unterholz zu sehen sind und ein Wäldchen bilden. Im Mittelgrund erscheinen nunmehr die Zweige einiger Büsche und ganz am rechten Bildrand ein hohler Baumstamm. Die Mitte des Bildes gibt den Blick frei auf eine grüne Wiese, die Darstellung eines in der Ferne schimmernden Gebirgszuges und ein Stück hellblauen wolkenlosen Himmels. Den Vordergrund beherrschen zwei halb liegend dargestellte Figuren, eine weißgewandete junge Frau links und ein schlafender, ebenfalls noch junger Mann rechts. Er ist fast nackt dargestellt und bedeckt seine Blöße lediglich durch ein geschickt drapiertes weißes Tuch. Das Auffällige an dieser Darstellung ist das Verhältnis von Nacktheit und Bekleidet sein, das hier insofern aus dem Rahmen fällt, als nicht, wie in Darstellungen des 15. und 16. Jahrhunderts häufig anzutreffen, die Frau fast vollständig nackt und der Mann in Kleidern erscheint, sondern umgekehrt. Dieser Umstand mag einesteils mit einem besonderen moralisch motivierten Appell zusammenhängen, andernteils aber auch auf die wenigen damals bekannten antiken Darstellungen von Mars und Venus zurückzuführen sein, denn dort taucht Mars als nackter Mann auf, während Venus mehr oder weniger gut bekleidet ist.
Vier weitere, kleinere Figuren bevölkern den querrechteckigen Bildraum, und bei diesen Kreaturen scheinen weder die Frage der Kleider noch das Problem der Nacktheit eine Rolle zu spielen. Es handelt sich um Satyrn, faunische Fabelwesen, lüsterne, oft trunkene Gesellen, die aus den antiken Überlieferungen als Begleiter des Bacchus bekannt sind. Deren Leib bedurfte natürlich überhaupt keiner Bekleidung, ihr Unterkörper ist animalischer Provenienz, nämlich zottelig, fellartig und paarhufig. Nicht weniger tierisch mutet der Kopfputz an, denn unter lieblichen Locken lugen jeweils zwei kleine geschwungene Hörnchen hervor, und seitlich darunter erkennt man viel zu große lang gestreckte Ohren animalischen Zuschnitts. Die kleinen Kerle treiben ihren Schabernack mit eindeutig kriegerischem Instrumentarium; der Satyr links, zwischen dem Wäldchen und der davor liegenden jungen Frau plaziert, hat sich den Helm eines Kriegers aufgesetzt, der ihm aber offenbar gar nicht passt. Die mehrere Nummern zu groß geratene und metallisch glänzende Kopfbedeckung verwehrt dem Kerlchen sogar vollständig den Blick auf das muntere Treiben seiner Kollegen, was ihn allerdings nicht daran hindert, sich zusammen mit einem weiteren Satyrn an einer Lanze zu schaffen zu machen. Ein anderer Satyr rechts daneben bläst in eine Muschel, deren weite Öffnung auf das Ohr des nackten jungen Mannes gerichtet ist. Der vierte Satyr in der rechten unteren Bildecke steckt in einer Rüstung und streckt sein rechtes Händchen nach dem Griff eines Schwertes aus, auf dessen Klinge der junge Mann trotz dieses eher unbequemen Arrangements zu ruhen scheint. Vor allem das hier zweckentfremdete Kriegsgerät - Helm, Harnisch, Lanze, Schwert - weisen die männliche Liegefigur auf dem Gemälde Botticellis eindeutig als Mars, den Gott des Krieges, aus, während die Identifizierung der ihm gegenüber dargestellten weiblichen Figur als Venus, als Göttin der Liebe, nicht aufgrund eindeutiger Attribute erfolgt. Ihre Anwesenheit in der dargestellten Szene folgt - wie wir sehen werden - aus dem Gesamtarrangement des Gemäldes.
Die großformatige bildliche Darstellung antiker Götter und Helden in der Malerei war eine Errungenschaft der Epoche Botticellis, doch in der Literatur gehörte die Gegenüberstellung von Mars und Venus damals schon zu den Gemeinplätzen der abendländischen Kultur. Tatsächlich findet sich eine solche, geradezu »klassisch« zu nennende Paarung des Kriegsgottes mit der Göttin der Liebe häufig in antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Texten. Diesen literarischen Überlieferungen vor allem ist auch das Gemälde Botticellis in hohem Maße verpflichtet. Wir lesen dort von Mut und Tapferkeit des antiken Kriegsgottes, aber auch von seinem Zorn, seiner Unberechenbarkeit und seiner Bösartigkeit, die es offenbar als eine unverzichtbare Zugabe der kriegerischen Natur des Gottes zu akzeptieren gilt. Und hier kommt Venus ins Spiel, die für die Neutralisierung oder zumindest die Mäßigung der negativen Charakteristika des Kriegsgottes zuständig ist." Ein prominenter Zeitgenosse Botticellis, der Philosoph Marsilio Ficino, hat in seinem 1469 entstandenen Büchlein »De amore« den allgemeinen Sinn der Gegenüberstellung von Mars und Venus in diesem Sinne resümiert. Er beschreibt im Kapitel über die Tugenden des Eros auch die Eigenschaften des Kriegsgottes Mars sowie den Einfluss der Venus auf diese Eigenschaften mit folgenden Worten:
»Die übrigen Götter [. . .] übertrifft Mars an Stärke, denn er macht Männer stärker. Ihn bezähmt Venus. [...]; wenn Venus mit Mars in Konjunktion ist - oder in Opposition oder in Rezeption [. . .], bietet sie oft seinem bösen Einfluss Einhalt [. ..]; sie scheint Mars zu beherrschen und zu beruhigen, aber Mars kann niemals über Venus herrschen.«
Die Zähmung des Mars durch Venus und durch die Liebe, wie Ficino sie hier schildert, ist natürlich ein aus der Literatur des klassischen Altertums bekannter Topos. So beschreibt zum Beispiel Lukrez in seinem Buch »De natura rerum«, einem philosophischen Lehrgedicht, geradezu bildhaft die Eigenschaften des Mars, und er erwähnt außerdem den notwendigen besänftigenden Einfluss der Liebesgöttin Venus auf ihren kriegerischen Götterkollegen:
»[ ...] denn du [Venus] vermagst die Menschen mit ruhigem Frieden zu erfreuen, da ja der waffenmächtige Mars die wilden Werke des Kampfes lenkt, [Mars], der oft sich in deinen Schoße zurücklehnt, besiegt von ewiger Wunde der Liebe, und so aufwärts blickt, den runden Nacken zurückbiegt, gierige Blicke in Liebe weidet, nach dir Göttin lechzend, und es hängt am Mund dir der Atem des Rückwärtsgebeugten.«
Tatsächlich erinnert die Beschreibung des ermüdet sich zurücklegenden Kriegsgottes zunächst an die rechts dargestellte Liegefigur in Botticellis Gemälde, denn auch im Bild des Florentiner Malers lässt der ermattet daliegende Kriegsgott seinen Kopf nach hinten sinken. Allerdings entspricht Botticellis Bildgestaltung nicht genau der literarischen Vorlage, da Mars ja keineswegs mit gierigen Blicken nach der Liebesgöttin lechzt. Eher das Gegenteil ist der Fall, denn der Jüngling scheint trotz der atemberaubenden Schönheit seines Gegenübers schlicht entschlummert zu sein. Botticelli illustriert also nicht eine im Text beschriebene Szene; er variiert vielmehr eine bereits bildhafte Beschreibung des bekannten Motivs der immerwährenden Besiegung des Mars durch die Venus, den Topos von der Zähmung der kriegerisch-männlichen Aggression durch den besänftigenden Einfluss der Liebe des Weibes. Zur näheren Erklärung von Botticellis Detailgestaltung der Szene muss man allerdings noch eine andere Quelle heranziehen, nämlich eine »Ekphrasis« Lukians, also eine jener klassischen Bildbeschreibungen, wie sie vor allem durch Philostratos aus der Antike bekannt sind. So findet sich in Lukians »Herodot« die Beschreibung eines Bildes des antiken Malers Aetion. Das bereits zu Botticellis Lebzeiten verlorene antike Gemälde zeigte allerdings nicht Mars und Venus, sondern stellte Alexander den Großen mit Roxana dar, der einzigen von Alexander wirklich geliebten Frau, die später seine Gattin wurde. Wir lesen dort an der entsprechenden Stelle von einer Bildkomposition, die derjenigen auf Botticellis Gemälde Mars und Venus stark ähnelt:
»Auf der anderen Seite des Bildes spielen ebenfalls Liebesgötter mit der Rüstung Alexanders; zwei tragen seinen Speer, wie Lastträger einen schweren Balken tragen; zwei weitere fassen die Griffe des Schildes und zerren ihn herum, während einer von ihnen darauf liegt - offenbar spielen sie. Und noch einer ist in den Brustharnisch geschlüpft, dessen Höhlung nach oben gekehrt ist.«
Zwar entspricht dieser Passus aus der klassischen Literatur nicht exakt dem Dargestellten (weil es bei Lukian nicht um Mars und Venus, sondern um Alexander und Roxana geht, doch die Beschreibung der kleinen Liebesgötter - im Bild die Satyrn - weist etliche nicht zu übersehende Gemeinsamkeiten mit dem Gemälde Botticellis auf Auch im Bild tragen sie einen Speer bzw. eine Lanze; einer der Satyrn ist - ebenso wie es Lukian beschreibt - in eine Rüstung geschlüpft, sie spielen also mit Kriegsgerät. Wir dürfen daher an einen unmittelbaren Einfluss des Textes auf das Gemälde Botticellis denken, dem somit zwei Typen von Quellen zugrunde liegen, zum einen eine antike Bildbeschreibung (Ekphrasis), zum anderen die Schilderung eines identischen Inhalts, nämlich die Gegenüberstellung von Mars und Venus.
Und noch eine dritte Inspirationsquelle dürfte der Maler bei der Arbeit an seinem Gemälde Mars und Venus vor Augen gehabt haben. Als formales Vorbild für Botticellis Komposition der beiden Figuren gilt das Relief eines damals wie heute in Rom aufbewahrten antiken Sarkophags mit Geschichten von Bacchus und Ariadne. Auch dort wird eine weibliche Gestalt halb liegend, halb sitzend dargestellt, während ihr gegenüber eine wie im Schlafe dahingestreckt wirkende männliche Figur plaziert ist. Allerdings weist auch hier, wie schon im Fall der Ekphrasis Lukians, die antike Inspirationsquelle einen anderen Inhalt auf, denn das Bildprogramm aller Sarkophagreliefs hat nicht die Gegenüberstellung von Venus und Mars zum Thema, sondern die Geschichte von Ariadne und Bacchus. Nun mag diese inhaltliche Abweichung weder Botticelli noch seine Auftraggeber gestört haben, denn die Formenwelt der Antike allein erschien ihnen interessant genug, um formal als Vorbild zu dienen - zumal die profane Ikonographie seinerzeit nur ein vergleichsweise bescheidenes bildliches Repertoire aufzuweisen hatte und den Künstlern somit antike Vorbilder, ganz gleich welchen Inhalts, zur Gestaltung antiker Stoffe willkommen waren. Es ist daher gut möglich, dass Botticelli den Sarkophag in Rom selbst gesehen hatte oder, eher noch, eine Zeichnung seines Reliefschmucks, ohne sich über den eigentlichen Inhalt der Darstellung den Kopf zu zerbrechen. Er benutzte die antike Vorlage lediglich als formales Vorbild, füllte diese Form aber dann mit einem anderen, ebenfalls aus dem Altertum stammenden Inhalt. Weniger wahrscheinlich erscheint schließlich eine weitere Möglichkeit, die im Kontext der anzunehmenden Entstehungsgeschichte des Gemäldes von Interesse ist und hier deshalb nicht unerwähnt bleiben soll: Die auf den Sarkophagreliefs dargestellte Geschichte handelt von Bacchus, der die von ihrem Liebhaber Theseus auf der Insel Naxos sitzengelassene Ariadne tröstet und schließlich zu seiner Gemahlin macht. Der römische Sarkophag spielte also auf eine antike Hochzeitsgeschichte an. Da Botticellis Bild - wie wir noch sehen werden - wahrscheinlich für eine Hochzeit gemalt wurde, ist also die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass man formal ganz bewusst auf eine antike Inspirationsquelle mit einer Hochzeitsthematik zurückgriff.

Die Besänftigung des Mars als Zähmung männlicher Lust

Man kann natürlich Botticellis Mars und Venus in einem allgemeinen philosophischen Sinne deuten, etwa so, dass die Gegenüberstellung der beiden Götter Ausdruck einer Harmonie der Gegensätze sei. Nützlicher und erhellender erscheint jedoch die Möglichkeit einer realitätsbezogeneren Interpretation. Den Hinweis auf diese Möglichkeit gibt Lukian, denn der antike Autor steuert eine präzise Deutung des von ihm beschriebenen und für Botticellis Komposition relevanten antiken Bildes bei:
»All das ist jedoch nicht bloß eitle Spielerei, auf die der Maler seine Mühe verschwendete, er deutet damit an, dass Alexander noch eine zweite Liebe hatte, den Krieg; obwohl er Roxana liebt, vergisst er doch nicht seine Rüstung. Im übrigen hatte das Bild selbst [...] eine ehefördernde Kraft, denn es war Aetions erfolgreicher Brautwerber. Bevor er ging, gab es auch für ihn eine Hochzeit, eine Art Gegenstück zu der Alexanders; sein Trauzeuge war der König, und das Entgelt für das Hochzeitsbild war eine Hochzeit.«
Der Maler Aetion hatte also mit dem bei Lukian beschriebenen Gemälde ein Hochzeitsbild gemalt, und er erhielt von Alexander und Roxana als Belohnung für sein Bild selbst eine Hochzeit vermittelt. Da nun in diesem als Inspirationsquelle dienenden Text der Hinweis auf die Hochzeit offen ausgesprochen wird, hat man im Kreis von Botticellis Auftraggebern nach entsprechenden Personen gesucht, für deren Hochzeit das Gemälde mit Mars und Venus hätte entstanden sein können. Und diese Richtung der Interpretation ist auch die nahe liegendste, denn sie wendet sich konkreten Bedingungen zu, wie wir sie von anderen Bildern kennen. Bei genauerem Hinsehen stößt man bald auf einen entscheidenden Hinweis in Gestalt eines wichtigen Details. Ganz rechts im Bild nämlich ist ein Nest angebracht, aus dem soeben mehrere Wespen ausschwärmen. Dieses Wespennest bzw. die Wespen selbst sind als eine Anspielung auf die Familie der Vespucci zu deuten. »Vespa« ist das italienische Wort für Wespe, und aus diesem Grund führte die Vespuccifamilie in ihrem Wappen tatsächlich eine ganze Reihe der genannten Insekten. Die Vespucci (man denke etwa an Amerigo Uespucci, dem der Kontinent »Amerika« seinen Namen verdankt waren eine prominente, reiche und mit den Medici politisch eng verbundene Familie. Bislang steht allerdings noch die überzeugende Benennung einer konkreten Hochzeit dieser weit verzweigten Familie aus, doch allein das querrechteckige Format der Tafel, das an Bilder auf Hochzeitstruhen erinnert, hat bereits früh zu der Vermutung geführt, dass es sich hier tatsächlich um ein Hochzeitsbild handele. Aber auch die Identifizierung der im Hintergrund sichtbaren Myrtenzweige hat diese Vermutung erhärtet, denn die Myrte galt nicht allein als eines der Attribute der Venus, sondern auch als Symbol für die Hochzeit.
Zunächst rätselhaft bleibt trotz der genannten Erklärungen die merkwürdige Pose des Mars. Unbeteiligter an jedwedem Geschehen im Bild könnte der Kriegsgott kaum dargestellt werden, ja er scheint sogar entschlummert zu sein. Sein Kriegsgerät, Helm, Lanze, Harnisch, Schwert, wurde von den vier Satyrn zu Spielzeug umfunktioniert. Das Schwert stellt keine Gefahr mehr für etwaige Gegner dar, bestenfalls noch für Mars selbst, denn der liegt offenbar auf dessen ansonsten todbringender Klinge. Der Kriegsgott, oft in eiserner Rüstung oder doch irgendwie wehrhaft dargestellt, erscheint wie der Friede selbst, das Gesicht und die Muskulatur wirken ebenfalls friedlich und entspannt. Das Inkarnat seines größtenteils nackten Körpers zeugt nicht von einer wind- und wettergestählten Natur, die durch die Unbill des Kampfes abgehärtet wurde. Die Haut scheint vielmehr von delikater Weichheit zu sein, die Darstellung vermittelt keineswegs den Eindruck kampftrainierter Männlichkeit. Aller seiner Waffen entledigt, muss er nun nur noch geweckt werden, um seinen Pflichten als Liebhaber nachzukommen. In diesem Sinne jedenfalls dürften die Satyrn zu verstehen sein, von denen einer in eine Muschel bläst, um den Gott unsanft aus dem Schlaf zu reißen. Den antiken Überlieferungen zufolge bringt nämlich dieses Blasinstrument einen besonders furchterregenden Ton hervor.
Botticellis Gemälde des schlummernden Mars konnte zum einen natürlich als ein galantes Kompliment an die zukünftige Braut verstanden werden, die ihren stürmischen Gemahl zähmt, ein Gedanke, der auch dem später entstandenen Gemälde Minerva bändigt den Kentaur zugrunde liegt. Doch über das galante Kompliment hinausgehend, thematisiert der Triumph der Göttin der Liebe über den Gott des Krieges auch die geschlechtsspezifische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, wie sie in den meisten patriarchalischen Gesellschaften gilt, so auch im Florenz des 15. Jahrhunderts. Die so überaus friedlich wirkende Gestalt des kriegerischen Gottes thematisiert nämlich hier die Zähmung der tierischen, traditionell mit dem Mann assoziierten Begierde durch die Göttin der Liebe, im konkreten Fall wahrscheinlich sogar die Domestizierung des vielleicht noch jungen Bräutigams, dessen Leidenschaften durch die Ehe in geordnete Bahnen gelenkt werden sollten. Dieses Motiv der Domestizierung der jungen Männer durch deren Verheiratung ist vor allem in den letzten Jahren als ein zentraler Gedanke profaner Bilder des Quattrocento erkannt worden: Erst in der Ehe finde der ansonsten unkontrolliert umherschweifende Trieb seine sinnvolle, der Zeugung von Nachkommen dienende Erfüllung." Und diese Aufgabe der ursprünglich mit dem unbändigen Mars assoziierten männlichen Freiheit gelingt nur durch die sittsame Liebe, hier verkörpert durch eine vergleichsweise keusch wirkende Venus, die ihrem Gemahl in einem fast hochgeschlossenen weißen Gewand gegenüberliegt. Im Bild repräsentiert Venus als die in reines Weiß gekleidete Liebesgöttin somit die Aussicht auf sinnlichen Genuss im Rahmen der Vorstellung ehelicher Keuschheit. Dieses scheinbare Paradox einer in der Ehe gelebten und damit tugendhaften Sinnlichkeit findet möglicherweise auch in der Brosche auf dem Gewand der Venus seinen Ausdruck, nämlich in deren symbolträchtigem Arrangement: Weiße Perlen umfassen als Zeichen der Reinheit und damit der Keuschheit einen roten Edelstein, wohl ein Hinweis auf Liebe und sinnliche Begierde, die hier von den Perlen der Tugend eingerahmt und im übertragenen Sinne gebändigt wird.
Zu den interessantesten und zugleich gefährlichsten Eigenschaften der antiken Göttergeschichten zählt ihre Vieldeutigkeit. Das gilt natürlich auch für ein Bild von Mars und Venus. Tatsächlich geht mit dem hier vermittelten Thema der Zähmung des Kriegsgottes durch die Göttin der Liebe, mit der Domestizierung der fleischlichen Lust durch die keusch bedeckte Venus, auch die Geschichte eines Ehebruchs einher. Der Gatte der Venus nämlich ist nicht in allen Überlieferungen Mars, sondern der Gott Vulkan, der eines Tages seine Frau mit dem Liebhaber ertappt. Dieses Thema außerehelicher Liebesfreuden wird zwar in Botticellis Gemälde vollständig ausgeblendet, doch als ein latent vorhandenes Element der ursprünglichen mythologischen Tradition erinnert es mittelbar an die sexuelle Lust an sich. Dasselbe gilt, trotz eines mit Sicherheit beabsichtigten moralischen Appells, auch für das Gemälde Botticellis. Venus, die Göttin der Liebe, ist nicht nackt dargestellt und Mars als Inkarnation der Lust sanft entschlummert, doch sind daneben die Satyrn als Verkörperungen der Wollust überaus aktiv, einer schickt sich an, Mars aufzuwecken, ein anderer lächelt einladend die Göttin der Liebe an, ein dritter schiebt wollüstig seine Zunge zwischen die halbgeöffneten Lippen. Die auf Bändigung unkontrollierter Triebe zielende Didaktik des Bildes ist also nur ein Aspekt, wenn auch der wichtigste. Doch gleichzeitig blendet Botticelli hier die Erotik der Darstellung nicht vollständig aus. Die Bändigung der Begierde lässt sich eben nur schwer ohne die Thematisierung der Begierden selbst vermitteln.
Nicht zuletzt aufgrund der möglichen Zweideutigkeit mythologischer Gemälde hat es schon zu Lebzeiten Botticellis Kritiker dieser Malerei gegeben, allen voran den in Florenz tätigen Prediger Girolamo Savonarola, der die Korruptheit der Amtskirche und die Sittenlosigkeit seiner Zeitgenossen heftig kritisierte. Gegen die Schmückung der Hochzeitstruhen mit Geschichten aus der antiken Mythologie formulierte er zum Beispiel folgenden Einwand:
»Und die Häuser der Bürger, - was soll ich von ihnen sagen? Keines Kaufmanns Tochter macht Hochzeit, ohne ihre Aussteuer in einer Truhe zu verwahren, die nicht mit heidnischen Geschichten bemalt wäre. So lernt die neuvermählte Christin den Trug des Mars und Vulkans Listen eher kennen als die berühmten Leben heiliger Frauen in beiden Testamenten.«
Savonarola brachte die Florentiner sogar so weit, dass sie zum Karneval 1497 die Zeichen weltlicher Lust und Eitelkeit - und hierunter auch zahlreiche Bilder profanen Inhalts - öffentlich verbrannten. Botticellis Mars und Venus und andere seiner mythologischen Gemälde waren allerdings nicht darunter. Möglicherweise hatte bei deren Besitzern die Lust an den Bildern und ihren Inhalten die Oberhand behalten. Nicht unerwähnt bleiben sollte allerdings, dass sich Botticelli, der Maler heidnischer Geschichten«, in den neunziger Jahren des 15. Jahrhunderts stark von den Predigten Savonarolas beeindrucken ließ und gegen Ende seiner Karriere praktisch keine Bilder mythologischen Inhalts mehr schuf.


3. Komposition mit Format, Gestaltungsregeln sowie Hauptbewegungslinien history menue scroll up
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Boticellis Venus - Detail aus Venus und Mars

Satyr spielt mit Mars' Lanze

Schlafender Mars


4. Farbe mit den Schwerpunkten: Farbauftrag, Kontraste sowie psychologischer Wirkung history menue scroll up
 
 
 


5. Verbindung zur Zeit, zum Stil sowie zur Epoche history menue scroll up
 
 
 

5. Weblinks history menue scroll up
Leider lautet das ewig währende Problem, dass ein Link auf die nicht ganz Großen gesetzt, morgen schon nicht mehr so aktuell, erreichbar, verbindlich und/oder vorhanden ist - also: für das nachfolgend Aufgezeigte gibt's keine Garantien für die Ewigkeit ;-)
 
 


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